Staatskanzlei

Platzeck: „Ehrlichkeit und Anerkennung- Perspektiven für Ostdeutschland“

veröffentlicht am 23.08.2004

Auszüge aus der Rede von Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck auf der Veranstaltung „Perspektiven für Ostdeutschland – Kräfte bündeln – Potenziale nutzen“ am 23. August 2004 in Potsdam „ Ostdeutschland ist eine Region mit Zukunft. Überall in Ostdeutschland ist unendlich viel auf den Weg gebracht worden in den letzten anderthalb Jahrzehnten. Überall haben die Menschen angepackt und Neues angefangen – mit ihrem Optimismus, mit ihren Ideen, mit ihrem Mut und Zusammenhalt. Und mit dem Vertrauen in die eigene Kraft. Da ist wirklich viel entstanden in dieser Region, da wächst an vielen Stellen ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein. Da wächst das Gefühl, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Da wächst die Entschlossenheit, anzupacken und die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen. Die Menschen hier im Osten haben längst erkannt, dass andere auch nur mit Wasser kochen. In punkto Fleiß, in punkto Mobilität und Flexibilität macht den Leuten hier so schnell niemand etwas vor. Die Menschen hier im Osten können etwas. Sie brauchen sich vor niemandem zu verste-cken. Und sie haben allen Grund zu sehr viel Selbstbewusstsein und sehr viel Stolz auf die eigene Leistung. Wir hören doch heute so viel von all den modernen Anforderungen, denen die Menschen gerecht werden sollen. Ich will dazu nur sagen: Diese Menschen gibt es hier in Ostdeutschland schon längst – und zwar in großer und ständig wachsender Zahl. Diese Ostdeutschen machen alles richtig: Sie sind fleißig, sie sind flexibel, sie sind mobil, sie sind einsatzbereit, und sie sind kooperativ. Das immer wieder aufgewärmte Klischee vom lamentierenden Jammerossi ist ein westdeutsches Medienmärchen. ► Hier in Ostdeutschland gibt es eine der modernsten Infrastrukturen Europas. Wir fah-ren heute auf neuen Autobahnen und Ortsumgehungen, wir haben neue Züge und neue Bahnstrecken. ► Hier in Ostdeutschland arbeiten die Menschen hart und viel. Sie nehmen weite Wege zur Arbeit in Kauf. Und die Brandenburgerinnen und Brandenburger arbeiten sogar, wie jüngst eine Studie ergab, im Durchschnitt länger als irgendwo sonst in Deutschland. Wir haben viele sehr erfolgreiche kleine Unternehmen. über 1.000 Hochtechnologiefirmen gibt es heute bereits allein in Brandenburg. ► Hier in Ostdeutschland sind Universitäten und Fachhochschulen mit exzellentem Ruf sowie zahlreiche moderne Forschungseinrichtungen entstanden. Denken wir an die Vi-adrina in Frankfurt, an die Universität in Ilmenau oder das Klimaforschungszentrum in Potsdam. ► Hier in Ostdeutschland haben wir ein Kinderbetreuungssystem, um das uns viele Frauen in Westdeutschland beneiden. In Brandenburg kommen auf 100 Kleinkinder 52 Krippenplätze, in Bayern oder Nordrhein-Westfalen nur einer bis zwei. Das sind unsere Stärken – und wir müssen alles daran setzen unsere Stärken weiter zu stärken! Aber das alles ist leider nur die eine Seite der ostdeutschen Wirklichkeit. Und es ist drin-gend nötig, dass wir uns ein vollständiges, ein sehr ehrliches und sehr realistisches Bild davon machen, wie die Menschen hier in Ostdeutschland ihre Lebenswirklichkeit und die Perspektiven ihrer Region erleben. Das ist die Voraussetzung dafür, dass aus Ansätzen und Potentialen eine bessere Zukunft werden kann. Die Stimmung in Ostdeutschland ist nicht gut. Die Dynamik der Proteste in vielen ost-deutschen Städten ist Besorgnis erregend. Die Teilnehmerzahlen an den so genannten Montagsdemonstrationen sind in den vergangenen Wochen gestiegen – und das, obwohl unterdessen wichtige und vernünftige nachträgliche Veränderungen an „Hartz IV“ vorge-nommen wurden. Aus meiner Sicht macht dies eines sehr deutlich: In Wahrheit geht es bei den Protesten nur vordergründig um „Hartz IV“. „Hartz IV“ und im Besonderen einzelne symbolträchtige Details wie die „Buschzulage“ oder der 12-malige Auszahlungsmodus, waren im Grunde nur der Anlass, der Auslöser, der Katalysator dieser neuen Protestbewegung. „Hartz IV“ war nicht die Ursache. Es geht um etwas anderes. Es geht um das Unbehagen sehr vie-ler Menschen hier im Osten an ihren Lebensverhältnissen. Das eigentliche Thema der Protestierenden ist ihre in den vergangenen Jahren gewach-sene Überzeugung, dass sie ganz einfach nicht wahrgenommen werden, dass sie in dieser Republik nicht vorkommen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozi-alhilfe ist noch immer der Kern der Empörung. Aber eben nur oberflächlich: „Keiner nimmt uns die Würde“, hatte neulich ein Demonstrant in Magdeburg auf sein Plakat ge-schrieben. „Es gehe nicht nur um „Hartz IV“, sagte ein anderer, sondern – wie er formu-lierte – auch darum, „dass das hier ein totes Land ist.“ „Keiner nimmt uns die Würde“, „ein „totes Land“ – meine Damen und Herren, ich glaube, genau hier liegt tatsächlich der Kern der Sache. Nein, Ostdeutschland ist kein totes Land, Ostdeutschland kann sich in den kommenden Jahrzehnten als eine Region mit großer Zukunft erweisen. Aber gelingen wird der weitere Aufbau im 21. Jahrhundert nur dann, wenn die Menschen die Zuversicht und das Vertrauen haben, dass es besser wird. Und genau diese Zuversicht und dieses Vertrauen sind in den vergangenen Jahren brüchig geworden. Ich weiß sehr wohl: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe dient dem Ziel, die Vermittlung in neue Arbeit zu verbessern. Dieses Ziel ist richtig. Und eines ist auch ganz sicher: Nirgendwo findet dieses Ziel so große Zustimmung wie gerade hier bei uns in Ostdeutschland. Denn die Ostdeutschen wollen arbeiten! Sie wollen sogar ganz unbedingt arbeiten! Ostdeutschland ist ein Land der Arbeit! Ostdeutschland ist in seiner Geschichte immer ein Land der harten Arbeit gewesen! Und genau deshalb macht ihnen auch nichts so sehr zu schaffen wie die ex-treme Massenarbeitslosigkeit, die hier seit Jahren fast flächendeckend herrscht. „Wir wollen hier leben, wir wollen hier arbeiten“, sagen sie. Und sie fragen sich, wo denn eigentlich die Arbeitsplätze sind, in die sie in Zukunft besser vermittelt werden sollen. Die nackte Wahrheit lautet: Diese Arbeitsplätze gibt es heute in Ostdeutschland in vielen Regionen ganz einfach nicht. Und genau deshalb können die Menschen hier in Ost-deutschland vielfach nicht erkennen, wie das Prinzip „Fördern und Fordern“ zum Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit beiträgt. Was sie sehen, sind neue Zumutungen und neue Belastungen. Was sie noch nicht sehen, das sind die neuen Perspektiven, die die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe eröffnen soll und eröffnen wird. Ich beschreibe das alles nur. Das hat nichts mit Jammern zu tun. Das ist ganz schlicht die reale Lage in Ostdeutschland. Wie soll sich denn den Menschen der langfristige Sinn einer Reform erschließen, wenn sie in ihrer Lebenswirklichkeit nur mit kurzfristigen Zumutungen konfrontiert werden? Hier ist künftig sehr viel mehr Sorgfalt erforderlich. Völlig zu Recht erwarten die Menschen in Ostdeutschland – ich sage bewusst: auch von der Bundesregierung – Verständnis und Sensibilität für die besondere Lebenswirklichkeit im Osten. Dabei sollte der Ton der politi-schen Debatte durchaus ehrlich, robust und direkt sein; die Menschen in Ostdeutschland schätzen Ehrlichkeit und Direktheit. Jedoch muss die Politik ihre Positionen immer mit dem Gesicht zu den Menschen vertreten, ohne dabei zurückzuweichen. Nur so gewinnt sie in Ostdeutschland neuen Respekt, neues Vertrauen und neue Zustimmung. Darum müssen wir dringend Gelegenheiten der Begegnung, der Kommunikation und des Zuhörens geschaffen werden, die der Perspektive der Menschen in Ostdeutschland als aufrichtig wahrgenommen werden. Ich weiß, angesichts der aufgeheizten Atmosphäre ist das schwierig – es ist aber gerade deshalb umso dringlicher. Jedes erdenkliche Mittel zur Beruhigung der Lage muss ergriffen werden. Vor allem muss der Eindruck widerlegt wer-den, die Bundesregierung gehe dem „Volk“ aus dem Weg. Wer sich hier in Ostdeutschland umschaut, der sieht aber auch: ► Wir haben es noch nicht geschafft, Unternehmen mit Hochschulen und Forschungs-einrichtungen eng genug miteinander zu verknüpfen. So gehen uns wertvolle Innovatio-nen verloren. Unsere Unternehmen sind noch zu schwach, um auf neue Märkte vorzu-dringen. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer berichten mir, dass sie ganz einfach nicht die Kraft haben, neue Märkte in Polen, im Baltikum oder Tschechien zu erschließen. ► Dazu kommt: Viele zu viele junge Menschen ziehen derzeit fort aus Ostdeutschland – aus der Altmark, aus Vorpommern, aus der Lausitz oder dem Erzgebirge. Das zerreißt Familien und Freundeskreise. Sicher ist es besser, wenn junge Menschen in der Fremde einen Job finden, als daheim arbeitslos zu sein. Dennoch: „Der Letzte macht das Licht aus“ – das ist das bittere Gefühl, das die Menschen in manchen Gegenden Ostdeutsch-lands heute wieder haben. ► Und schließlich haben wir in den vergangenen Jahren in ganz Ostdeutschland auch einen historisch einmaligen Rückgang der Geburtenzahlen erlebt. Nur noch der Vatikan hat eine niedrigere Geburtenrate. Weniger Kinder bedeuten aber nicht nur weniger Schu-len und weniger Spielplätze. In den Augen der Menschen ist dies vor allem ein Zeichen für weniger Zukunft. Deshalb brauchen wir einen neuen Schub beim Aufbau Ost. Die Menschen in Ost-deutschland haben in den letzten Jahren viel geleistet. Was sie heute brauchen, ist Ver-trauen in die Zukunft und die Zuversicht, dass alle ihre Anstrengungen nicht vergebens gewesen sind. Was heißt dies für eines neues Konzept vom Aufbau Ost? Meine Antwort ist ganz klar: Ganz allein auf die Menschen kommt es an, auf ihre Ideen und ihre Kreativi-tät. ► Wir können es uns nicht leisten, auch nur ein einziges Kind, nur einen einzigen Men-schen zurückzulassen. ► Jeder muss gefördert, aber auch gefordert werden. ► Keiner wird aufgeben. Diese Grundprinzipien des erfolgreichen finnischen Sozialstaates müssen auch hier in Ostdeutschland gelten. Von den Finnen können wir viel lernen. Nach schwerster Wirt-schaftskrise noch Anfang der 90er Jahre ist Finnland heute die wettbewerbsfähigste Nati-on Europas und hat seine Arbeitslosigkeit mehr als halbiert. Wie die Finnen brauchen wir ein Konzept für Ostdeutschland, das Wirtschaft, Bildung und Familien zusammen denkt. In Zukunft müssen wir stärker in Menschen investieren. Wir brauchen eine Umschichtung hin zu mehr Investitionen in Bildung, Arbeitsplätze und Zusammenhalt. ► Hochschulen und Forschungseinrichtungen müssen stärker als bisher mit den Unter-nehmen zusammenarbeiten. Aus solcher Zusammenarbeit zwischen Hochschule, For-schung und Unternehmen werden neue Arbeitsplätze entstehen. Und zwar Arbeitsplätze, die zukunftssicher sind, die gut bezahlt werden. Wenn uns das gekoppelt mit einem radi-kalen Bürokratieabbau gelingt, dann werden wir neue Kreativität und neuen Tatendrang im Land auslösen. Und wir müssen es hinbekommen, dass Innovation und Erfindung dann auch hier in Arbeitsplätze umgesetzt werden. Es darf nicht mehr sein, dass wir einer Erfindung den Innovationspreis des Landes umhängen, dann nichts mehr davon hören – und nach drei Jahren lesen wir in einer Fachzeitschrift, dass der dazugehörige Betrieb bei Stuttgart oder München eröffnet wurde. Diesen Sprung dürfen wir nicht mehr zulassen. Das muss hier in Ostdeutschland stattfinden. Deshalb schlage ich vor, dass der Bund und die neuen Länder eine Technologiestiftung ins Leben rufen, die genau dies verhindert. ► Wir müssen die einzelbetriebliche Förderung der Unternehmen erhalten und verbes-sern. Vor allem aber müssen wir die Förderinstrumente noch stärker auf die Bedürfnisse unserer kleinen ostdeutschen Unternehmen ausrichten. Wir brauchen eine bessere Ex-portförderung – eine Exportförderung, die Chancen eröffnet. Unsere Unternehmen sind mit der neuen Mittelstandsbank des Bundes noch nicht zufrieden – sie muss sich viel stärker an der Realität der kleinen ostdeutschen Betriebe ausrichten. Wir brauchen eine enge Verknüpfung von Wirtschaft, Bildung und Familienpolitik. Diese drei Ziele gehören zusammen. Wenn wir wirtschaftliche Dynamik in Ostdeutschland wol-len, brauchen wir soziale Gerechtigkeit. Und wenn wir soziale Gerechtigkeit wollen, brau-chen wir wirtschaftliche Dynamik. Das sind keine Gegensätze, sondern zwei Seiten der-selben Medaille. Das darf nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Menschen, ob in Cottbus, Chemnitz oder Köthen brauchen diese Zuversicht. Daraus entstehen auch wie-der Mut und Kraft – und Mut und Kraft brauchen die Menschen, damit sie ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen können. Ich habe kürzlich davor gewarnt, die Verhältnisse in Ostdeutschland könnten sehr grund-sätzlich ins Rutschen geraten. Ich habe das nicht leichtfertig getan. Diese Gefahr besteht tatsächlich, und wir sollten sie sehr, sehr ernst nehmen. Anders als die Menschen in der alten Bundesrepublik blickt Ostdeutschland nicht zurück auf Jahrzehnte des Wiederauf-stiegs und des Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Jahrzehnte haben in Westdeutschland das Vertrauen in die demokratischen Institu-tionen und Verfahren der Bundesrepublik begründet und Schritt für Schritt gefestigt. Hier in Ostdeutschland fehlt die stabilisierende Wirkung dieses erfolgreichen historischen Vorlaufs. Hier im Osten muss unsere demokratische Gesellschaftsordnung ihre Leis-tungsfähigkeit jeden Tag aufs Neue demonstrieren. Wenn wir uns heute mit den Perspektiven Ostdeutschlands beschäftigen, dann geht es nicht um Sonderwünsche, nicht um Länderegoismus, nicht um irgendeine Vorzugsbe-handlung für den Osten. Es geht um unser Land als ganzes. Heute entscheidet sich gerade auch bei uns im Osten die Zukunft von ganz Deutschland. Es geht heute wieder in fast dramatischer Weise darum, ob das Zusammenwachsen Deutschlands doch noch gelingt – oder ob der Osten und der Westen unseres Landes im 21. Jahrhundert wieder weiter auseinander treiben. Das aber hätte verheerende Auswirkungen – nicht nur auf die Inneren Einheit unseres Landes. Auf dem Spiel steht auch die Reformfähigkeit dieser Gesellschaft insgesamt. Die notwendige Erneuerung unseres Landes werden der Osten und der Westen nicht ohne einander bewältigen und erst recht nicht gegeneinander – sondern nur gemeinsam, nur zusammen, nur als Partner. Entweder Ost und West ziehen an einem Strang – oder Deutschland wird den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gewachsen sein.“