Rede von Innenminister Jörg Schönbohm beim Gedenktreffen der Initiativgruppe Internierungslager Jamlitz e.V. am 13. September 2008 in Jamlitz
13.09.2008
(Es gilt das gesprochene Wort.)Wir haben uns heute versammelt, um gemeinsam der Opfer des sowjetischen Speziallagers Nr. 6 hier in Jamlitz zu gedenken. Mein besonderer Gruß gilt daher den ehemaligen Häftlingen, ihren Angehörigen und Hinterbliebenen.
Es bewegt mich sehr, wenn ich sehe, wie viele von Ihnen die Beschwernisse einer zum Teil langen Anreise auf sich genommen haben, um hier in Jamlitz gemeinsam der zu Tode gekommenen Opfer zu gedenken und an die durchlittenen Qualen der Überlebenden zu erinnern.
Wir trauern heute um jene, die an diesem Ort zwischen 1945 und 1947 eingesperrt waren und um jene, die hier ihr Leben ließen. In unser Gedenken schließen wir ausdrücklich auch die Opfer des Außenlagers Lieberose des KZ Sachsenhausen mit ein.
Heute – auf den Tag genau – vor 63 Jahren kehrte das Grauen nach Jamlitz zurück. Am 13. September 1945 wurden die ersten Gefangenen in das Speziallager Nr. 6 deportiert. Rund 3.300 Häftlinge waren in langen Marschkolonnen aus der Frankfurter Dammvorstadt nach Jamlitz geführt worden. Viele waren bereits seit dem frühen Sommer in der Gewalt der Sowjets. Die Jüngsten unter den Gefangenen waren gerade einmal 12 Jahre alt.
Was in den anschließenden 19 Monaten in dem Lager geschah und was die Inhaftierten ertragen mussten, kann kaum jemand, der dies nicht selber durchgemacht hat, wirklich nachempfinden.
Die Häftlinge vegetierten bei unmenschlichen Bedingungen. Isolation, Hunger, Krankheit und Tod waren allgegenwärtig. In den anderthalb Jahren, in denen das Speziallager bestand, kamen über 3.500 Häftlinge in Jamlitz ums Leben. Viele von Ihnen starben an den Folgen von Unterernährung und den schlechten hygienischen Bedingungen. Täglich wurden die Toten auf LKWs verladen und in den Wäldern verscharrt, nur ein Bruchteil von ihnen wurde bis heute gefunden.
Gemessen an der Häftlingszahl waren nirgendwo sonst die Opferzahlen so hoch wie in Jamlitz. (Jamlitz: ca. 10.000 Häftlinge, 3.500 Tote; Mühlberg: ca. 22.000 Häftlinge, 6.500 Tote)
Jamlitz ist heute für uns ein zentraler Ort der Erinnerung. Wir gedenken hier der Opfer des braunen Terrors ebenso wie wir der Opfer des roten Terrors gedenken. Symbolhaft steht Jamlitz für die beiden deutschen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Jamlitz – das ist das Außenlager des KZ Sachsenhausen, Jamlitz – das ist aber auch das sowjetische Speziallager Nr. 6.
Viel zu lange – über vier Jahrzehnte – war an ein gemeinsames Gedenken an die Opfer beider Lager nicht zu denken. Das Leiden der Inhaftierten des sowjetischen Speziallagers wurde in der DDR systematisch totgeschwiegen.
Jede Erinnerung an die Opfer des Stalinismus wurde in der DDR rigoros unterdrückt. Indem die Fakten über das Ausmaß der Grausamkeiten unterdrückt wurden, machte sich die SED-Führung mitschuldig an den Verbrechen des Stalinismus. Man wusste: hätte man eine offene Diskussion über die Speziallager zugelassen, hätte dies die Machgrundlage des jungen kommunistischen Staates fundamental in Frage stellen können.
Mit allen Mitteln sollte verhindert werden, dass man Parallelen zwischen den Speziallagern und den Nazi-KZs zog. Die sowjetischen Verbrechen und die willigen Handlangerdienste der Verantwortlichen in der DDR wurden systematisch tabuisiert. Die entsprechenden Dokumente wurden 40 Jahre unter Verschluss gehalten.
Den Häftlingen hatte man zusätzlich ein striktes Schweigegebot auferlegt. Bei Zuwiderhandlung drohte die erneute Verhaftung. Auf diese Weise wirkte die im Lager erlittene Isolation auch lange nach der Freilassung fort. Auch für ihr weiteres Leben hatten die traumatischen Erfahrungen der Lagerhaft tief greifenden Auswirkungen.
Der Untergang des Arbeiter- und Bauernstaates und die Wiedervereinigung wurden dementsprechend als große Erlösung empfunden. Gleichzeitig kehrten aber auch verdrängte Erinnerungen an die bereits überwunden geglaubte Vergangenheit zurück. Alte Wunden brachen wieder auf. Aus diesem Grunde wollen wir heute auch ganz ausdrücklich an die schweren seelischen Qualen erinnern, die die Opfer zu erleiden hatten – während der Inhaftierung, aber auch noch lange danach.
Viele haben sich ein Leben lang an das Schweigegebot gehalten – weniger aus Furcht vor erneuter Verhaftung, sondern vielmehr, weil sie nicht fähig waren, das, was ihnen widerfahren ist, in Worte zu fassen und weil es nur wenige gab, die davon wissen wollten. Umso mehr sind wir heute gefordert, diese Sprachlosigkeit zu überwinden.
Dazu gehört auch, dass wir endlich mit der weitverbreiteten Behauptung aufräumen, die Lager hätten der Verwahrung von überzeugten Nazis und Kriegsverbrechern gedient. Das heute vorliegende Archiv- und Quellenmaterial macht deutlich, dass es sich keineswegs um Nazi- oder Kriegsverbrecherlager gehandelt hat. In den sowjetischen Befehlen für die Festnahme von Deutschen tauchen die Begriffe „Kriegsverbrecher“ oder „Nazi-Verbrecher“ an keiner Stelle auf.
Mit der Bestrafung wirklich Schuldiger hatte das sowjetische Lagersystem nichts zu tun. Nur in den wenigsten Fällen lassen sich tatsächlich Verbrechenszusammenhänge recherchieren.
Natürlich gab es unter den Gefangenen auch NS-Verbrecher und Nazi-Aktivisten. Überwiegend waren die Insassen aber Minderbelastete und Mitläufer, nicht selten einfache Soldaten oder willkürlich Verhaftete. Unter ihnen auch eine Großzahl von Jugendlichen.
Selbst Sozialdemokraten und Kommunisten befanden sich unter den Inhaftierten. Sogar als ausgewiesener Gegner des Nazi-Regimes konnte man vor einer Verhaftung nicht sicher sein.
So zählte beispielsweise Ulrich Freiherr von Sell zu den prominenten Insassen in Jamlitz. Von Sell hatte im ‚Dritten Reich’ enge Beziehungen zu verschiedenen Widerstandskreisen gepflegt. Zu Stauffenberg stand er durch dessen Adjutant Werner von Haeften in Kontakt, der der Cousin seiner Frau war.
Von Sell nahm auch an verschiedenen Beratungen in der Bendlerstraße teil und war vom Stauffenberg-Kreis als Verbindungsoffizier im Wehrkreis IX (Kassel) vorgesehen.
Wenige Tage nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 wurde Sell von der Gestapo verhaftet und saß bis zum 30. März 1945 in der Lehrter Straße in Untersuchungshaft.
Nachdem er sich nach Kriegsende darum bemüht hatte, einen früheren Mitarbeiter von dem falschen Verdacht nationalsozialistischer Betätigung zu entlasten, wurde er vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und als einer der ersten in das Internierungslager Jamlitz gebracht, wo er am 12. November 1945 an Lungenentzündung und Entkräftung starb.
Kurz nach Sell wurde noch ein weiterer prominenter Widerständler nach Jamlitz gebracht: Justus Delbrück. Delbrück hatte gute Kontakte zu dem Widerstandskreis um General Hans Oster. Auch zum Kreisauer Kreis um Moltke pflegte Delbrück enge Beziehungen.
1944 wurde er von der Gestapo im Zusammenhang mit dem Stauffenberg-Attentat verhaftet und bis Kriegsende festgehalten. Seine Freiheit sollte aber nur kurz währen. Nur einen Monat nachdem er aus der Gestapo-Haft entlassen wurde, wurde er durch den NKWD festgenommen. Im Juni 1945 wurde er nach Jamlitz gebracht, wo er wenig später an Diphtherie starb.
Besonders tragisch: Als Gegner der Nazis hatte Delbrück immer mit Russland sympathisiert. Er erhoffte, dass nach Kriegsende von hier der notwendige Neuanfang für Europa ausgehen werde. In der Gestapo-Haft hatte er sogar damit begonnen, Russisch zu lernen.
Ein weiterer Häftling in Jamlitz war Ernst Keutel. Keutel wurde im März 1946 vom NKWD verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt war Keutel gerade einmal 16 Jahre alt. Dem Begründer der Antifa-Jugend in Lübben wurde zur Last gelegt, Mitglied der Untergrundgruppe „Werwolf“ gewesen zu sein. Im April 1946 wurde Keutel ins Speziallager Jamlitz eingewiesen. Ein Jahr später wurde er nach Buchenwald verlegt, wo er im Mai 1947 stirbt.
Lassen sie mich noch kurz ein letztes Einzelschicksal skizzieren. Der Kommunist Otto Maaß arbeitete als Elektriker im KZ-Nebenlager Lieberose. Dort beobachtete er im Februar 1945 wie über 1.200 marschunfähige Juden bei der Auflösung des Lagers hingerichtet wurden.
Als er nach Kriegsende Nachforschungen über den genauen Hergang des Massenmordes anstellen wollte, wurde er von der sowjetischen Geheimpolizei festgenommen. Ein Denunziant hatte die Sowjets davon überzeugt, dass Maaß mehr wisse als er zugebe und in Wirklichkeit in die Vorgänge verwickelt sei.
Mitte Oktober wurde Maaß vom NKWD als „Agent der Gestapo“ ins Internierungslager Jamlitz deportiert. Nachdem er zunächst nach Frankfurt und dann Buchenwald verlegt wurde, wurde er 1950 schließlich entlassen. Er starb 1980 in Cottbus.
Warum schildere ich diese drei Einzelschicksale? Weil sie klar und deutlich zeigen, dass es keineswegs nur Nazis waren, die in den sowjetischen Speziallager interniert wurden. Es stimmt nicht, dass die Lager der Internierung von Nazis oder Kriegsverbrechern dienten. Sie waren schlichtweg ein Bestandteil der stalinistischen Herrschaftspraktik, die sich durch Unterdrückung, Einschüchterung und willkürlicher Gewalt auszeichnete.
Vor diesem Hintergrund habe ich im Jahr 2005 in einer Rede vor Überlebenden des KZ Sachsenhausen ausdrücklich auch die Opfer der sowjetischen Schweigelager erwähnt.
Ich möchte Ihnen die entscheidenden Sätze noch einmal vorlesen, weil es meine feste Überzeugung ist, dass es nach wie vor richtig ist, was ich damals gesagt habe. Ich sagte wörtlich: „Es wäre unrecht, hier in Sachsenhausen nicht auch der Menschen zu gedenken, die nach 1945 hier eingesperrt waren, ebenso rechtlos wie die KZ-Opfer. Auch nach 1945 wurde hier weiter gefoltert und getötet, starben Menschen an den furchtbaren Verhältnissen im sowjetischen Speziallager. […] An sie muss deshalb umso nachdrücklicher erinnert werden, da ihrer über vierzig Jahre lang an diesem Ort überhaupt nicht gedacht wurde.“
Die Empörung über diese Worte war damals gewaltig. Der ehemalige Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausenkomitees behauptete, ich habe damit zu einem Gedenken an die „Mörder, Peiniger und Quäler“ der damaligen KZ-Insassen aufgerufen.
Auch Claudia Roth schloss sich der Kritik an. Sie behauptete, ich habe die ehemaligen KZ-Häftlinge „mit einer unerträglichen Gleichstellung von Tätern und Opfern“ provoziert.
Diese unfassbare Ignoranz und die historische Ahnungslosigkeit machen mich noch immer wütend. Glücklicherweise haben nicht alle so gedacht wie die Grünen-Vorsitzende. Ich habe damals auch viel Zuspruch bekommen.
Heute hat sich die Aufregung gelegt. In der Zwischenzeit ist auch der Generalsekretär des Sachsenhausenkomitees nicht mehr im Amt. Es hat sich herausgestellt, dass er jahrelang hauptamtlicher Mitarbeiter der Stasi war und musste deshalb von seinem Posten zurücktreten.
Vielleicht hat die Diskussion von damals ja ein wenig dazu beigetragen, dass das Schicksal der Opfer der Speziallager etwas mehr in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt wird.
Heute geht es einzig und alleine darum, den Opfern von damals endlich die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ihnen so lange verwehrt wurde. Sie müssen endlich die Anerkennung erhalten, die sie verdienen.
Es gibt keine Opfer erster oder zweiter Klasse. Der Tod im Speziallager Nr. 6 war nicht mehr und nicht weniger Unrecht als der Tod im KZ Sachsenhausen. Wir trauern um alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen anderen Punkt ansprechen. Es bedrückt mich sehr, dass nach wie vor Unklarheit über den Verbleib von hunderten jüdischen Opfern des NS-Regimes herrscht. Erst kürzlich bestätigte das Landgericht Cottbus, dass auf einem angrenzenden Privatgrundstück nicht nach den sterblichen Überresten der KZ-Opfer gesucht werden darf.
Natürlich müssen wir die Entscheidung des Gerichtes akzeptieren, dennoch finde ich diese Entscheidung ausgesprochen bedauerlich, da es uns ein Anliegen sein sollte – nicht zuletzt aus unserer historischen Verantwortung heraus – den bisher unbekannten jüdischen Opfern eine würdevolle Totenruhe und ihren Angehörigen nach Jahrzehnten der Ungewissheit ein Gedenken zu ermöglichen.
Trotz aller Versuche der Landesregierung bleibt der Eigentümer aber bei seiner Meinung und will Grabungen auf seinem Grundstück nicht zulassen. Dennoch werden wir auch in Zukunft nichts unversucht lassen, um den betreffenden Grundstückeigentümer umzustimmen.
Es wäre sonst auch nur schwer zu erklären, wie wir mit Eifer nach Massengräbern in Bosnien suchen, die Aufarbeitung und Auseinandersetzung unserer eigenen Geschichte aber scheuen. Indem wir das vermutlich letzte große Massengrab in Jamlitz suchen, zeigen wir, dass wir bereit sind uns unserer Vergangenheit zu stellen.
Leider erweist sich gerade die Aufarbeitung der SED-Diktatur zunehmend als Problem in unserer Demokratie. Die lediglich umbenannte Partei der Unterdrückung, der Mauer und des Spitzelsystems sitzt in immer mehr Parlamenten, greift zunehmend nach der Regierungsgewalt und betreibt mit Nachdruck die Fälschung der eigenen Geschichte.
Von ihren damaligen Machenschaften wollen sich die SED-Nachfolger freilich nicht distanzieren. Und das obwohl die SED integraler Bestandteil des stalinistischen Systems war und für die Verfolgungen Ende der vierziger Jahre durchaus einen Großteil der Verantwortung und mehr als nur eine Teilschuld trägt.
Welche Ausmaße die stalinistische Schreckensherrschaft tatsächlich hatte, lässt sich bis heute nur erahnen. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 1928 und 1953 insgesamt mehr als 25 Millionen Menschen dem menschenverachtenden Unrechtssystem des Stalinismus zum Opfer fielen. Keine Gesellschaft kann ein solches Ausmaß an schwelender und offener Gewalt unbeschadet überstehen.
Kürzlich ist ein ergreifendes Buch über genau dieses Thema erschienen. Der britische Historiker Orlando Figes schildert in dem Buch „Die Flüsterer“ in erschütternder Weise wie in der UdSSR unbescholtene Bürger aus Angst vor dem Staat es nicht mehr wagten, gewisse Dinge laut auszusprechen – sie wurden zu Flüsterern. Keiner konnte sich in diesem System sicher fühlen, nicht einmal die überzeugtesten Anhänger des Regimes. Durch zahlreiche Zeitzeugengespräche ergründet Figes, wie die Familien auf die Zwänge des Sowjetregimes reagierten – und wie Stalin dadurch die russische Gesellschaft veränderte oder besser gesagt: zu Grunde richtete.
Es stimmt nachdenklich, wenn der Autor beschreibt, wie schwierig es war, auch Jahrzehnte nach dem Ende der kommunistischen Terrorherrschaft mit den Menschen in Russland ins Gespräch zu kommen. Nach wie vor sind dort Angst und Misstrauen ständige Begleiter. Viele Opfer sind noch immer traumatisiert und fanden nie wieder ins normale Leben zurück. Kaum einer wollte über das Erlebte und Durchlittene sprechen. Schlimmer aber ist, dass es kaum einen zu geben schien, der ihre Geschichte hören wollte.
Figes weist aber noch auf einen anderen interessanten Punkt hin. Er betont, dass er es für ungerecht hält, den heutigen Russen vorzuwerfen, sie würden alles nur schweigend hinnehmen. Wer als Russe das 20. Jahrhundert durchlitten habe – so Figes – der habe gelernt, seinen Mund zu halten und der wage es nun mal nicht sofort offen seine Meinung kund zu tun oder gar protestierend auf die Straße zu gehen.
Hier sehe ich durchaus eine Parallele zur ehemaligen DDR. Auch in Ostdeutschland herrscht häufig noch immer Schweigen über die Vergangenheit. Dabei ist es Zeit, über die Gegenwart zu sprechen und nach den Folgen von vierzig Jahren real existierendem Sozialismus zu fragen. Unterdrückung und Spitzeltum, Kollektivierung und Entmündigung des Einzelnen, staatlich verordneter Atheismus und Indoktrination – das alles kann doch nicht folgenlos geblieben sein?
Vor diesem Hintergrund halte ich es für eine große Schande, dass es noch immer Menschen gibt, die ein Gedenken für die Opfer des Sozialismus für überflüssig halten und dieses Kapitel deutscher Geschichte möglichst schnell vergessen wollen.
Gegen die Manipulation unseres Gedenkens müssen wir uns entschlossen zur Wehr setzen. Das Gedenken ist immer auch eine Verpflichtung zur Tat. Wenn wir es nicht verteidigen, erlauben wir es den Tätern von gestern, heute noch ihre Taten zu beschönigen, ihre Opfer weiterhin einzuschüchtern und zu verhöhnen. Wir müssen der Opfer heute angemessen gedenken, weil wir es heute können und weil wir wissen, wie sie gelitten haben.
Ihr Leiden und ihr Einstehen für ihre Überzeugungen nehmen uns auch in die Pflicht. Teil unserer politischen Arbeit muss es sein, an die Schrecken der Vergangenheit zu erinnern. Das sind wir den Opfern der Schweigelager schuldig.
Wenn ich über die Opfer spreche, schließe ich immer auch die Angehörigen der Inhaftierten mit ein. Auch sie litten unter der Inhaftierung. Mütter vermissten ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Kinder ihre Väter. Probleme ergaben sich aber nicht alleine dadurch, dass Familien jetzt ohne einen „Ernährer“ durchkommen mussten.
Häufig bedienten sich die neuen kommunistischen Herren wie selbstverständlich an Möbeln und Hausrat der Familie. Ebenso kam es vor, dass arbeitsunfähige Frauen keine Sozialunterstützung mehr erhielten oder Lebensmittelkarten eingezogen wurden.
Das, was diese Menschen damals ertragen mussten, darf niemals aus unserer Erinnerung getilgt werden. Aus diesem Grunde müssen die Speziallager ein lebendiger Teil der deutschen Erinnerungskultur werden, ebenso wie die SED-Diktatur endlich als Bestandteil unserer gemeinsamen deutschen Nationalgeschichte begriffen werden muss.
Das Leiden der Häftlinge von Jamlitz und Lieberose verpflichtet uns zur Erinnerung. Wir können und dürfen diese Menschen nicht vergessen. Die Opfer gehören in die Mitte des öffentlichen Gedenkens, am Rande haben Sie viel zu lange gestanden.
Um tatsächlich aus der Geschichte zu lernen, brauchen wir eine geschichtsbewusste Gedenk- und Erinnerungskultur. Dies ist umso wichtiger, da die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte zunehmend verblasst. Auch die Zeitzeugen von einst werden nicht unbegrenzt von ihren Erlebnissen berichten können.
Es ist an uns allen, Ihre Schicksale im Herzen und in den Köpfen zu bewahren, um durch die Erinnerung an das Geschehene, unsere freiheitliche und demokratische Gemeinschaft zu stärken und sie zu immunisieren gegen Intoleranz und Menschenverachtung. Wenn dies gelingt, waren das Leiden und Sterben in Lieberose und Jamlitz nicht vergebens.